Geschichten von der Mauer: Ein einfacher Fall

Triggerwarnung!

Dieser Text enthält intensive und explizite Darstellungen von Gewalt, schwerem Leid, Tod, sowie Blut und Verstümmelung, die für manche Leser:innen verstörend wirken können. Bitte lesen Sie mit Vorsicht und berücksichtigen Sie Ihre persönlichen Grenzen.

-------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Dieser Text entführt Sie in eine von vielen Gestalter:innen gemeinsam erschaffene dunkle Fantasie-Horrorwelt, die komplexe und anspruchsvolle Themen erforscht und abbildet. Die intensiven und expliziten Darstellungen von Gewalt, Leid und Tod sind unter anderem ein Bestandteile dieser düsteren und facettenreichen Erzählung. Bitte lesen Sie mit Bedacht und berücksichtigen Sie Ihre persönlichen Grenzen.

Padari, Seelsorger an der Mauer

 

Als ich an die Mauer kam, habe ich schon in der Überforderung der ersten Woche angeregt, dass die Arbeitszeit der Seelsorger an der Mauer beschränkt wird, auf bestenfalls ein Jahr, aber damals war ich jung, naiv und idealistisch. Es hat niemanden gewundert, die meisten, die herkommen, haben ähnliche Ideen. Es wäre auch eine gute Entscheidung, doch die traurige Wahrheit ist, dass wir dafür nicht genügend Leute haben. Es ist schon schwierig genug, die Mauer voll besetzt zu halten, wenn die meisten Soldaten höchstens zwei Wochen bleiben – auch noch eine Heerschar an Betreuern zu binden, die anderswo genauso dringend gebraucht werden, ist einfach nicht möglich. Also habe ich mich stattdessen in die Struktur gefügt, die die erfahrenen Priester und Priesterinnen schon vor Jahrhunderten installiert haben, eine Seelsorgekette mit drei Ebenen, die sehr gut funktioniert. In erster Front stehen jene, die Tag für Tag Erstkontakt zu den Traumatisierten haben und sie werden betreut von der zweiten Ebene, die sich nur um das Wohl dieser Seelsorger kümmern. Die dritte Linie kümmert sich ausschließlich um die Betreuer der Betreuer – eine Arbeit, die verhältnismäßig harmlos ist und dennoch eine gute Vorbereitung auf den Dienst in größerer Nähe zur Hölle. Wenn uns also aus der ersten oder zweiten Reihe jemand ausfällt, können wir rasch aus der dritten nachbesetzten und gleichzeitig im Landesinneren um Unterstützung ansuchen. Wenn wir die Anzeichen von Überlastung rechtzeitig erkennen, können wir auch Personen aus den Ebenen austauschen, ohne Verluste zu erleiden. Ich war die letzten Monate in dritter Reihe und bin erst heute wieder an die Front gewechselt.

Vor mir sitzt eine Frau mit heftig zerkratzen Unterarmen, was ich nicht sehen kann, weil sie bandagiert wurden, aber es steht im Bericht der Heilerin. Die Frau ist um gut zehn Jahre älter als ich und somit nicht mehr im gebärfähigen Alter. Zuhause warten drei Kinder auf sie. Ihr Mann ist vor achtzehn Monaten bei einem Überfall Korrumpierter verstorben. Sie hat daraufhin um Versetzung zur Mauer angesucht, aber man hat sie erst jetzt herbeordert, damit die Familie Zeit hat, das traumatische Erlebnis zu verarbeiten.

„Beschreibt mir bitte, was geschehen ist“, fordere ich sie auf.

„Ich stand auf der Mauer, auf Außenposten vier, im Schatten des linken Turmes, als eine gnomenartige Kreatur über die Mauer gekrochen kam“, beginnt sie und ich muss lächeln, weil ich schon vergessen hatte, wie sehr sich die Berichte von Soldatinnen von denen der Seelsorger unterscheiden, aber zu lächeln ist nie schlecht, wenn das Lächeln von Herzen kommt, also lächle ich weiter. „Es konnte sich am Stein festhalten, wie eine Fliege an der Decke und es hatte kleine, scharfe Krallen, wie eine Katze. Ich versuchte, es die Mauer hinunterzustoßen, aber es war unglaublich schnell und wendig. Es hat sich an mir verkrallt. Ich zog mein Messer, weil ich Angst hatte, mich mit einer anderen Waffe selbst schwer zu verletzen und versuchte, das Ding zu erstechen. Es hielt sich erst am einen, dann am anderen Arm fest und wehrte sich entsetzlich. Ich habe einige Augenblicke gebraucht, es abzukriegen, da war ich schon schwerer verletzt. Die Heilerin sagt aber, dass kein Gift in die Wunden gekommen ist und dass ich auch ganz sicher keine Krankheit übertragen bekommen habe. Ich weiß nicht, woher sie das wissen will, es ist ja erst unlängst passiert, aber wenn sie es sagt, dann wird es schon stimmen.“

Da ist ein fragender Ausdruck in ihren geweiteten Augen.

„Wann hat die Attacke stattgefunden?“

„Gestern Mittag, so gegen zwölf.“

Ich brauche nicht in meine Unterlagen zu sehen, ich weiß was das steht und lächle stattdessen freundlich weiter.

„Ist es richtig, dass Euer Bettlaken heute Morgen blutverschmiert war?“

„Ja. Ja, das ist richtig.“

„Wie kann das sein, wenn die Heilerin Euch versorgt hat? Haben die Wunden so stark genässt?“

Da ist Verwirrung in ihrem Gesicht und die ersten Anzeichen einer unliebsamen Erkenntnis.

„Das…das ist seltsam…“
„Waren da Verbände, in der Früh?“
„Nein…ich…ich denke nicht.“

„Habt Ihr die Verbände vor dem Zubettgehen abgelegt?“

Schweigen. Ich lächle weiter. Als längere Zeit keine Antwort kommt, frage ich vorsichtig:

„Kann es sein, dass gestern keine Verbände angelegt wurden?“

Das Gesicht der Frau zerfurcht sich. Die Narbe, die von ihrer Stirn zur Wange geht, verzerrt dabei ihren Mund ein wenig. Sie starrt auf ihre Arme.

Ich sehe, wie meine Fragen und deren Implikationen immer mehr Gewicht bekommen, aber sie antwortet nicht. Also frage ich etwas, das leichter zu beantworten ist:

„Was tragt Ihr beim Dienst auf der Mauer?“

Die Frau sieht auf, ein kurzes Blitzen in ihren Augen.

„Dasselbe wie die meisten Soldatinnen. Leichte Unterkleidung, Lederrüstung, Turban.“

„Tragt Ihr Armschienen?“

Ich bekomme wieder keine Antwort, aber ich kenne die Antwort und die Frau kennt sie auch.

„Ihr denkt, dass meine Geschichte nicht stimmt…“ flüstert die Soldatin heiser.

„Ich denke, dass etwas geschehen ist, wir aber beide noch nicht genau wissen, was. Was denkt Ihr?“

Ihre Mimik zeigt Anstrengung.

„Ich…ich weiß noch, ich war als Wachsoldatin eingeteilt und kam um vier von der Mauer, direkt in die Kantine zum Essen…warum hätte ich in die Kantine gehen sollen, wenn ich verletzt bin? Ich kann mich nicht erinnern, vor dem Schlafen überhaupt zur Heilerin gegangen zu sein…ich…ich war heute dort…“

„Was ist auf der Mauer passiert? Außer dem Gnomenangriff.“

„Na ja, es war hässlich…wie immer halt…“

„Was war hässlich?“

„Ihr wisst, wie das ist…“ weicht sie mir aus.

„Ich weiß nicht, wie es für Euch ist.“

Sie seufzt entnervt.

„Viele Leichenteile, grausige Geräusche, Gestank…immer hört oder sieht man irgendwas… ich…die Zeit ist so schwer einzuschätzen…es passiert so viel…nicht alles ist echt…es ist einfach…es ist nicht gut dort oben.“

„Bereut Ihr, um Versetzung auf die Mauer ansucht zu haben?“

„Nein!“ Ich versuche, mir ihre heftige Reaktion zu merken. Ich habe mit den Jahren gelernt, dass es die Soldaten nur nervös macht, wenn ich während den Gesprächen Notizen mache.

„Warum bereut Ihr es nicht, wenn es dort oben ‚nicht gut’ ist?“

„Es muss sein! Es ist die schwerste Aufgabe, die Sol uns stellt, aber es ist auch unsere größte Verantwortung. Man kann sich nicht davor drücken! Wenn wir nicht alle mitarbeiten, dann sind wir alle verloren!“

Ich versuche hinter ihrem Ausbruch zu erkennen, ob echte Emotionen im Spiel sind oder nur Propaganda.

„Das stimmt schon…aber vielleicht war der Zeitpunkt nicht gut gewählt?“

„Jeder Zeitpunkt ist gleich schlecht. Das sagen die anderen.“ Sie blickt wieder auf ihre Arme. Ich gebe ihr die Zeit, bis sie leise fragt: „Was ist passiert?“

Ich antworte nicht sofort, weil es auch eine Frage an sie selbst sein könnte. Als sie mich jedoch hilfesuchend ansieht, erwidere ich mit Bedacht:

„Ich habe eine Theorie. Sie muss nicht stimmen. Wollt Ihr sie trotzdem hören?“

Die Soldatin nickt niedergeschlagen.

„Ich denke, dass ihr gestern auf der Mauer wart, dass Ihr körperlich nicht verletzt wurdet, wie Ihr auch all die anderen Tage nie körperlich verletzt wurdet, aber dass Ihr viel gesehen habt, das schwer zu ertragen ist und dass Ihr Euch schuldig fühlt, weil ihr unversehrt geblieben seid, während andere gestorben sind. Soll ich weitersprechen?“

Die Frau nickt matt. In ihren Augen glänzen Tränen.

„Ich denke, dass Ihr zu Bett gegangen seid und davor gebetet habt. Ihr habt einem anderen Priester schon einmal erzählt, dass Ihr jeden Abend betet, deshalb denke ich, dass es auch diesmal so war. Ich vermute, Ihr hattet einen Traum, einen sehr intensiven Traum, einen Traum, den Euer Körper umgesetzt hat, während Euer Geist darin gefangen war. Ich denke, Ihr habt Euch dabei selbst verletzt.“ In ihrem Gesicht zuckt es. „Die Heilerin berichtet, dass auch Euer Nachtgewand zerrissen war. Ist Euer Nachtgewand zerrissen gewesen?“
„Ja“, sagt die Soldatin tonlos. „Der linke Ärmel war aufgerissen.“

Ich nicke. Ich lächle sie wieder an.

„Was haltet Ihr von meiner Geschichte?“

Die Soldatin starrt auf ihre Bandagen. Ihre Finger bewegen sich reflexartig, als würden sie sich um unsichtbare Waffen schließen.

„Klingt plausibel, gefällt mir aber nicht“, erklärt sie und zieht dabei die Nase hoch.

Dann sieht sie mich wieder an.

„Was bedeutet das?“ fragt sie. „Was geschieht jetzt?“

„Es bedeutet nicht viel mehr, als dass Eure Menschlichkeit noch ganz gut funktioniert“, beginne ich mit einer Erklärung, die ich früher oft gegeben habe, aber jetzt schon länger nicht mehr, weil ich so lange in der dritten Linie gearbeitet habe. „Es ist natürlich, dass Körper und Geist auf die Mauer reagieren. Sonst wäre die Dienstzeit ja auch nicht auf so kurze Zeit beschränkt. Ihr habt Eure vierzehn Tage durchgehalten, das ist eine große Leistung und Ihr solltet Sie entsprechend honorieren.“
Sie lacht trocken, aber da ist Hoffnung hinter ihrer Nonchalance.

„Am besten ist es, wenn Ihr noch ein wenig in Candidus bleibt. Nicht im Dienstrad an der Mauer“, beeile ich mich, hinzuzufügen, als ich ihren entgeisterten Gesichtsausdruck sehe, „Sondern abgerüstet, unten, bei den Zivilisten. Dort können wir alle paar Tage eine Stunde miteinander verbringen und sehen, wie es Euch geht.“

Sie wirkt nicht überzeugt.

„Wenn ich Euch sympathisch bin. Oder ich verweise Euch an eine Priesterin, wenn Ihr lieber mit einer Frau sprechen wollt?“

Sie schüttelt schweigend den Kopf und ich lächle noch einmal gewinnend, aber ihre Zweifel kann ich nicht ganz überwinden. Deshalb greife ich nach ihrem Oberarm, langsam, damit sie nicht zurückzuckt. Sie beobachtet meine Hand wie ein widerwärtiges Insekt, aber ich lege sie trotzdem auf ihren Verband, drücke leicht zu und sehe ihr dabei in die Augen.

„Tamilla, du wirst hier wieder wegkommen. Ein Traum mit Selbstverletzung macht dich nicht zu einer Verrückten. Ich hatte schon ganz andere Fälle hier, die längst wieder zuhause sind.“

Sie nickt.

„Ich glaube an dich und Sol tut es auch!“ Ich lehne mich zurück und betrachte ihre Körpersprache. Angespannt.

„Ihr…Ihr denkt…es wird wieder?“

Ich nicke.

„Ja. Was Ihr da durchmacht haben schon sehr viele überstanden. Es braucht eben etwas Zeit. Das ist in Ordnung, das muss so sein!“

Sie lächelt zaghaft. Ich kann zum ersten Mal erkennen, dass sie mich sympathisch findet. Das ist gut, das hilft.

Im Schnitt schafft jeder hundertste Soldat die Rehabilitation nicht oder nicht vollständig. Erst letzte Woche hat sich eine Soldatin in der Anstalt erhängt. Doch davon erzähle ich ihr nichts. Es würde sie nur verunsichern und was ich ihr gesagt habe, ist die Wahrheit. Ich bin überzeugt, dass sie es schaffen wird. Im Vergleich zu dem, was hier tagtäglich behandelt wird, ist ihr Trauma vernachlässigbar. Ein einfacher Fall, für meinen Wiedereinstieg in den Dienst an der Front.

Autorin: Elisabeth Schwaiger