Skay, Wache an der Mauer, 1. Tag
Sie führen mich hinauf, Schritt um Schritt über trügerisch weiße Stufen zur Mauerkrone. Es kracht, die Mauer erzittert leicht. Die Metallplatten singen, aber über dem Lärm, den die Menschen auf der Mauer und die Verlorenen hinter der Mauer machen, ist es fast nicht wahrzunehmen. Mir ist mulmig zumute. Subtiler Verwesungsatem liegt in der Luft. Er wird mit jedem Schritt stärker. Und Eisen…es reicht so stark nach Eisen… Ich versuche, nicht darüber nachzudenken, wie viel Blut geflossen sein muss, dass er die Luft um die Mauer getränkt ist, mit diesem Gestank. Die Menschen, die ich auf halbem Weg hinaus oben stehen sehen kann, ergeben ein trauriges Bild. Die Knie des einen Soldaten zittern so heftig, dass er seinen Rundgang nicht fortführen kann. Er hält sich am Stein fest und atmet schwer. Neben ihm bewegen sich die Arme einer Prätorianierin, als wäre sie eine Maschine. Sie zieht einen magischen Feuerball hoch und lässt ihn los, scheinbar ohne zu zielen, um in derselben Bewegung den nächsten zu holen und loszulassen. Mit jeder Stufe, die ich hochsteige, fällt einer der brennenden Bälle. Vierzig Feuerlanzen später, als ich fast oben angekommen bin, holt sie mit derselben Hand aus, die vorhin noch Feuer geworfen hat und versetzt dem Soldaten, der neben ihr zittert eine Ohrfeige, die kracht, wie die Erschütterungen an der Mauer es tun. Der Kopf des Soldaten fliegt zur Seite. Sie spricht kein Wort, der Soldat spricht kein Wort, sie hat sich bereits von ihm abgewendet und ist in Richtung von einem der Wehrtürme unterwegs. Sein Zittern hat aufgehört. Er blickt in meine Richtung, grün um die Nase und Wahnsinn im Blick, aber er hat Kraft genug gewonnen, weiterzugehen.
„Der wird wohl demnächst abgezogen“, spricht mir meine Führerin ins Ohr, damit ich sie hören kann. „Es ist sein zehnter Tag hier oben.“
Sie lacht trocken, als hätte sie einen Witz gemacht.
„Du hast dich an meine Anordnungen gehalten und nicht gefrühstückt?“ fragt sie noch.
Ich nicke dumpf. Dort hinter mir, unten, bei den weißen Häusern mit den goldenen Dächern, wo Schuster und Schmiedinnen ihrer Arbeit nachgehen, hielt ich den Befehl noch für einen Scherz, für eines der Späßchen, die man mit den Neuen macht, um sich hinterher bei einem Bier königlich darüber zu amüsieren. Es war Aylas Blick – so dunkel und tief – das Fehlen von jeglichem Humor, wie ich ihn generell in den Baracken unten bemerkt hatte, der mich dann doch gehorchen ließ. Mittlerweile bin ich heilfroh. Ich habe noch gar nichts gesehen und mir ist schon flau im Magen. Der Geruch und dann dieser! Das dumpfe Dröhnen und Singen wäre ja noch zu ertragen, aber dieses matschige, seltsame Schmatzen, das schmerzverzerrte Kreischen, dieser Höllenlärm, der während dieses momentanen Ansturms andauert, zerrt an meinen Nerven. Das Geschrei, Gebete und Gesang der Menschen auf der Mauer klingt wie der Aufstand einer Meute, Kämpfer in Raserei. Mein Herz schlägt wild mit ihnen mit und etwas in mir möchte Angst haben. Ich lasse es nicht zu!
„Keine Sorge, es ist nicht jeden Tag so“, meint Ayla grimmig. „Du hast echt Pech, dass du heute anfängst!“
Wir sind gleich oben. Eine grimmige Entschlossenheit ergreift von mir Besitz. Ich bin hier, um unser Land zu schützen, meine Frau, meine Eltern, meine Kinder! Ich bin hier, weil jemand hier sein muss, weil es meine Zeit ist, weil ich stark genug bin, ich weiß es! Zwei Wochen soll ich durchhalten, hat man mir gesagt. Zwei Wochen längstens, dann werde ich abgelöst. Ich muss an den Mann denken, der erst zehn Tage geschafft hat und schon so aussieht. Ein gestandener Mann, gar nicht mehr so jung, mit Narben im Gesicht, die von früheren Kämpfen zeugen. Habe ich mich doch überschätzt?
Man hat mir keine Waffen gegeben. Beim ersten Mal auf der Mauer bekommt niemand Waffen, hat mir meine Führerin gesagt. Das habe ich dann schon hingenommen, ohne es für einen Scherz zu halten. Zu oft sei es in der Vergangenheit zu Konflikten zwischen Soldaten und Prätorianern gekommen. Letztere dulden kein Zögern und reagierten instinktiv auf jegliche Versuche, sie in ihrem Handeln zu behindern und sei es nur durch Fragen. Es habe sich als weiser herausgestellt, die Soldaten erst zu bewaffnen, wenn sie bewiesen haben, dass sie nicht schon beim ersten Anblick vom Treiben über der Mauer wahnsinnig werden. Mein Schwert, mein Speer und mein Bogen warten bereits auf mich, gleich nach meiner Bewährungsprobe.
Rechts und links vom Aufstieg beginnen die dicht gedrängten Kampfreihen. Ich trage den roten Turban und die rote Schärpe, wie all meine Leidensgenossen. Die Prätorianer in ihren silbernen Leichtplatten mit den dazu passenden Masken sind glänzende Ornamente zwischen den Leibern. Die Soldaten schreien, viele von ihnen schreien. Manche singen. Ayla brüllt mir ins Ohr, dass sie es tun, um den Kampf nicht zu hören und dass manche von ihnen glauben, es helfe gegen Einflüsterungen, wenn man sie nicht höre. Ich unterdrücke den Instinkt, mir die Ohren zuzuhalten und trete in die hinterste Reihe der Kämpfer.
Mädchen – Gliedmaßen – Kopf – Krallen – Schwänze – Blut – Eiter – Horde – Säugling – Pferdekopf – Anus – Schmerzen im Ohr „Hör auf zu schreien!“
Ich begreife nicht.
Da ist es plötzlich ganz still. Vor meinen Augen schwimmt das Meer aus Leibern.
Ich habe dich mit einer Krankheit infiziert. Kleine Würmer brüten unter deinen Zehennägeln. Sie werden sich ins Gewebe fressen, bis hinunter zu deinen Knochen. Sie sind winzig, du kannst sie mit dem bloßen Auge nicht sehen, aber sie zersetzten deine Knochen von innen heraus, bis sie bröseln. Du wirst an Qualen leiden und an Schwäche. Eine Silbermaske wird dich von deinem Leiden erlösen. Du kannst auch gleich über die Mauer springen, dann hast du es hinter dir!
„Hör auf zu schreien!“
Brennen auf meiner Wange. Mir ist schwindelig. Ich habe noch nie so viel Tod auf einmal gesehen. Wellen aus Blut. Berge aus Leichen. Ayla schlägt wieder auf mich ein. Da ist keine Wut in ihrem Gesicht, nur nackte Angst.
Wie benommen greife ich nach meiner Wange. Die Schreie um mich sind gewaltig und schwellen noch weiter an. Ich wende den Kopf und sehe in ein Gesicht aus tausend Zähnen. Mir gegenüber, direkt, da, ich brauche nur die Hand auszustrecken. Nein! Das Gesicht ist weit entfernt, es ist nur so riesig! Es ist ein Koloss, mit tausenden Armen! Wenn er die Mauer erreicht, wird er sie einfach einreißen! Jede Hand hat zehn Finger, jeder Finger hat zwei Krallen. Auf manchen der Krallen sind Menschen aufgespießt…oder auch nur Teile von Menschen. Ich will wegsehen und kann nicht. Nicht, bis mich etwas sanft streichelt und endlich löst sich mein Blick von dem Ungeheuer. Eine wunderschöne Frau steht ein wenig abseits des Kampfes. Sie legt den Finger auf die Lippen und deutet mir. Sie deutet auf eine Leiter, die gar nicht weit entfernt von mir, an die Mauer gelehnt steht. Sie reicht nicht bis zur Krone und wurde im Tumult offensichtlich übersehen. Ich bräuchte mich nur über die Zinnen schwingen, ich könnte mit den Beinen bestimmt darauf landen. Die Frau deutet hinter sich, wo ein üppiger Wald beginnt. Ihre Lippen formen Worte, die ich mehr erraten muss, als dass ich sie verstehen kann: „Ich zeig dir, wie du das Monster zu Fall bringen kannst. Aber sei vorsichtig, die Menschen hier sind verbohrt und wollen nicht alle Wege gehen, die es notwendig ist zu gehen. Du bist doch bereit, dich zu opfern, um den Kampf zu beenden? Deswegen bist du doch hergekommen?“
Ich schlage die Augen auf und sehe in Aylas besorgtes Gesicht.
„Verzeih mir, es war ein Fehler, dich bei dem Ansturm zum ersten Mal auf die Mauer zu führen“, sie beißt auf ihre Lippe, fest genug, dass sie blutet. Ein Blutstropfen fällt mir ins Gesicht. Ich zucke zusammen. „Es ist nur…es waren schon so viele gefallen…“ In ihren Augen sehe ich Tränen und einen flackernden Wahnsinn, der zuvor nicht da war.
„Wo bin ich? Was ist geschehen?“
„Du hast versucht, über die Mauer zu klettern. Eine Prätorianerin hat dich niedergeschlagen und ich hab dich nach unten gebracht.“ Ayla zittert. Ich sehe, dass sie am ganzen Leibe zittert.
„Was geschieht jetzt?“
Sie räuspert sich, sieht sich gehetzt um, zuckt zusammen.
„Ich…ich werde versetzt…“ murmelt sie nur. „Was mit dir geschieht…ich weiß es nicht. Einer der Heiler wird sich mit dir beschäftigen. Es hängt davon ab, wie viel du gesehen hast. Wie geht es dir?“
Die Frage verwirrt mich. Mein Kopf dröhnt. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich immer noch diese Bilder. Das Gewusel aus Leibern. Der süßliche Gestank von Verwesung und der säuerliche von Erbrochenem. Jetzt, wo ich in der wahren Stille liege, beginnen sich die Bilder fast wie von alleine zu ordnen. Dort weit hinten, wo ein Holzrahmen aufgestellt stand, an dem mehrere Menschen mit beschuppter Haut, mit mehrschwänzigen Peitschen, an deren Ende Nägel geknotet waren, auf einen jungen Mann mit bloßem Oberkörper einschlugen, dem die Muskeln bereits in Fetzten herabhingen, an manchen Stellen konnte man die Knochen sehen. Und er schrie, dass seine Stimme bis zur Mauer trug. Oder die gekrümmte Gestalt mit der schwarz-grün schleimig überzogenen Haut, die schmatzend und schlürfend übers Schlachtfeld schlurfte, mal hier einen Arm aufhob und die spitzen Zähne in frischem Fleisch vergrub, mal dort einen abgetrennten Kopf zur Seite trat. Oder die halbverhungerten Jungen, die aus einem Käfig ausgebrochen waren und um ihr Leben rannten. Drei waren klug genug weiter in den Norden zu laufen, in Richtung der vereinzelten Bäume und zerklüfteten Felsen, aber sie kamen nicht weit. Ein Rudel skelettartiger Köter hetzte sie zurück, schnappte nach ihnen, biss und zerrte sie zurück zum Käfig. Einer der Jungen jedoch rannte zur Mauer, weil sie um einiges schneller zu erreichen war. Er flehte um Einlass, versprach seine Dienste, seinen Körper, versprach alles, er wolle nur Teil der erlösten Menschen werden. Sein rötliches Haar war zottig. Sein mageres Gesicht in Angst und Schmerz verzerrt. Der Feuerball der Prätorianerin trifft ihn mitten im Gesicht. Er stolpert, fällt nach hinten. Sein Gesicht ist eine kochende Masse aus Rot in der einzelne Knochensplitter hervorstechen. Seine Haare brennen wie Zunder, bald hat auch seine Kleidung Feuer gefangen. Er winselt nicht mehr, er gurgelt nur noch unter krampfhaften Zuckungen, aber er lebt. Seine Arme rudern, seine Beine strampeln. Er leidet ärger als ein Tier, aber die Prätorianerin hatte keinen weiteren Zauber für ihn übrig. Noch lebendig wird er am Bein gepackt und von einer der größeren Kreaturen als Geschoß über die Mauer geworfen. Er fliegt in hohem Bogen, immer noch rudernd und strampelnd. Erst als er auf drei Speeren landete, sein Blut verteilt auf ein Duzend Männer und Frauen, ist er endlich tot.
Einer der Soldaten wankt nach hinten. Eine Gefährtin möchte ihn halten, aber er macht einen Schritt in die falsche Richtung, stolpert und fällt. Er ist wohl schon bewusstlos, denn er fällt lautlos und wie ein Sack Mehl über die Mauer. Nur ein gellender Schrei verfolgt ihn: „Hamid! Nein!“ Wer schreit kann ich nicht sagen, es schreien zu viele hier.
Nach endlosem Fall landet er mit einem satten Schmatzen auf dem Boden. Im gleichen Moment ist das Schleimwesen da. Es zerrt eine Hacke von irgendwo her und zertrümmert den Schädel, so dass das weißliche Gehirn hervorquillt. Es beugt sich über den Soldaten und das schmatzende Schlürfen wird lauter.
Schreie in meiner Nähe bringen mich zurück in die Gegenwart. Ayla wirft erneut ängstliche Blicke um sich.
„Nein! Nein! Geht weg! Nicht! Lasst mich!“ Es ist die heisere Stimme eines Mannes, der wohl schon viel geschrien hat.
„Was ist mit ihm?“
„Sie versuchen, ihn zu füttern“, flüstert Ayla. „Er hat seit Tagen nichts gegessen. Irgendetwas, das er über der Mauer gesehen hat, hat so großen Ekel in ihm ausgelöst, dass er nichts unten behält. Ein Abtransport wurde schon beantragt, aber momentan haben wir keine Kapazitäten, um ihn wegzubringen. Nicht während des Angriffs.“
„Was ist mit dir?“ frage ich. „Musst du nicht auf der Mauer sein?“
Sie sieht mich an mit ihren geweiteten Augen.
„Man hat mir gesagt, ich soll bei dir bleiben.“ Wieder sieht sie sich um, als würde sie erwarten, dass jemand sie unterbricht. „Ich…ich glaube, das soll heißen, dass ich suspendiert bin“, haucht sie mir mehr zu, als dass sie flüstert. „Wegen…wegen meiner Fehleinschätzung. Sie denken wohl, dass meine Zeit gekommen ist.“ Sie schluckt krampfhaft. „Ich bin nicht böse!“ sagt sie. „Meine zwei Wochen sind ohnehin fast um.“ Sie zwinkert unnötig oft. „Ich hoffe nur, dass sie mich nicht einweisen. Also nicht länger, als die anderen. Es ist ja Standard, dass man untersucht wird, wenn man zurückkommt.“ Sie zwinkert erneut. Aus Freundlichkeit sage ich ihr nicht, was ich denke. Es ändert ohnehin nichts.